Text von Barbara Klingbacher
 

Den Backenknochen am Hals der Gans erfühlen. Die Kehlhaut vorsichtig nach unten ziehen. Das Messer seitlich ansetzen. Mit der Klinge rasch und entschlossen den Halsstich setzen, um Schlagader und Gurgel zu durchtrennen. Mit der anderen Hand, die den Kopf hält und die Augen verdeckt, sofort das Genick brechen. Nicht zweifeln, nicht zögern – das ist das Wichtigste. «Du musst dir sicher sein, dass du es tust», hatte Christoph Wiesner gesagt, als er das Schlachten vorzeigte. Worauf man nicht vorbereitet ist, sind die Wimpern. Das Tier zwinkert zart gegen die Innenfläche der Hand.

Wie kann man sicher sein, dass man es tut, wenn man es zum ersten Mal tut? Ich habe nie getötet, jedenfalls kein Säugetier und auch keinen Fisch. Und doch sind 1,5 Kälber, 2 Rinder, 14 Schweine und 538 Hühner bisher für mich gestorben, statistisch gesehen jedenfalls. Vielleicht waren es in Wirklichkeit einige weniger, weil ich eine Zeitlang Vegetarierin war.

Das begann nicht mit einem Entscheid, sondern einem Versehen. Es passierte mir mit siebzehn. Ich schlenderte in der irischen Stadt Cork den Ständen des English Market entlang und stand plötzlich inmitten von Kadavern. Halbe Schweine baumelten an Haken, Schafsköpfe starrten aus leeren Augen, und auf der Theke reihte sich Hase an Hase, gehäutet bis auf die pelzigen Pfoten. Es roch nach Blut, mir wurde schwindlig; draussen sass ich auf einer Parkbank, bis die Übelkeit verging.

In meiner Kindheit hatte es Tiere gegeben, und es gab Fleisch: Zwergkaninchen und Cordons bleus, Meerschweinchen und Koteletts, flauschige Wesen und das rosafarbene Etwas unter Klarsichtfolie, in das ich beim Einkaufen gern den Zeigfinger drückte; das hatte nichts miteinander zu tun. Auf dem Markt aber begriff ich zum ersten Mal körperlich: es sind lauter tote Tiere. Damals habe ich nicht beschlossen, kein Fleisch mehr zu essen. Ich ass einfach an diesem Tag keins, und auch nicht am nächsten, und dann neun Jahre lang nicht.

Während jener Zeit hörte ich auch erstmals den Satz: «Wer Fleisch isst, muss selber töten können.» Das sagte meine Mitbewohnerin, die ebenfalls Vegetarierin war, und ich hätte unterschrieben ohne nachzudenken. Bis ich wieder Fleisch essen wollte. Seither habe ich versucht, beim Einkaufen auf gute Tierhaltung zu achten – und das Sterben zu verdrängen.

Noch ist die Reihe nicht an mir. Noch sind andere da, denen ich den Vortritt lassen kann: ein Polizist, ein Angestellter der Stadt Wien und eine Redaktorin, vier Mitarbeiter des Flughafens, ein Student und ein Kellner. 35 Euro haben sie bezahlt, um zu lernen, wie man eine Gans schlachtet. Ihre eigene Gans, die sie noch lebend auf dem Hof kaufen – bei Hausschlachtungen darf man nur Tiere töten, die einem selbst gehören, so will es das Gesetz.

Es ist ein kühler Wintertag, an dem elf Gänse, ein Truthahn und eine Ente sterben werden. Ihr Leben endet, wo es begonnen hat, auf diesem Bauernhof im österreichischen Wischathal. Das klingt banal und ist doch die Ausnahme; fast jedes Nutztier wird am Schluss zu einem Schlachthof gekarrt. 26 Millionen Schlachttiere sind täglich in der EU unterwegs, teils über Tausende Kilometer und bis dreissig Stunden am Stück. Die Wiesners aber töten alle Tiere hier. Nicht nur das Geflügel, auch die Schweine werden den Hof nicht lebend verlassen. Christoph Wiesner begründet das nicht mit dem Tierwohl. Der 45jährige Landwirt mag nicht als Romantiker gelten und als radikal nur, wenn es um Fleischqualität geht. Tiere sollten in den letzten Tagen wenig Neues erleben, sagt er, kein Verladen, keine Transporte und vor allem: keine Angst. Neues bedeutet Stress, und Stress bedeutet schlechteres Fleisch. Das Plätzli, das nach dem Braten geschrumpft und zäh auf unserem Teller liegt – das stammt wohl von einem Schwein, dessen Muskeln in panischer Fluchtbereitschaft übersäuert haben.

Die «Arche de Wiskentale» ist der Hof, den wir Städter uns gern vorstellen, wenn wir an die Herkunft von Plätzli und Pouletflügeli denken. Hinter der Scheune wühlen wollige Mangalitza-Schweine im Wald, vor der Scheune tollen Ferkel, und am Bach, der durch das Grundstück fliesst, schnattern altdeutsche Landgänse und Aylesburry-Enten. Die Wiesners halten selten gewordene Rassen, lauter Tiere, die zu langsam wachsen, zu viel Platz brauchen, nicht schwer genug werden oder das Gewicht an der falschen Stelle ansetzen – für die Fleischindustrie sind sie nicht lukrativ genug. Nur die Hühner, die scheu beim Ferkelgehege scharren, stammen aus der landwirtschaftlichen Gegenwart: Es sind Lege-Hybrid-Hühner. Nach nur einer Legeperiode – bis zu 330 Eier in 365 Tagen – werden sie normalerweise geschreddert oder zu Biogas verarbeitet; weil sie so platzsparend mager gezüchtet worden sind, ist ihr Fleisch beim Konsumenten nicht gefragt. Isabell Wiesner hat die Ausschuss-Hennen eben erst gekauft. Nicht aus Mitleid, sagt sie, zu viel Mitleid könne sich ein Hof wie ihrer nicht leisten. Es war ein guter Preis für eine gute Sache, ein Euro pro Huhn: «Die liefern uns Eier, solange es geht, und enden dann in einer Suppe.»

Eine Gans schlachtet man am besten im Team. Als erste wagen sich zwei Flughafenangestellte vor. Die beiden haben sich für den Schlachtkurs angemeldet, weil sie finden, als Fleischesser müssten sie sich dem Töten stellen. René, ein Informatiker, hält die Füsse und die Flügel fest, Rainer, ein Gepäckarbeiter, greift nach dem Kopf und nach dem Messer. Die beiden fixieren die Gans über einem Eimer, Christoph Wiesner kauert daneben. Auch er hat ein Messer zur Hand, um einzugreifen, falls Rainer im falschen Moment zu zögern beginnt. Aber Rainer zögert nicht. Backenknochen erfühlen. Kehlhaut nach unten ziehen. Klinge ansetzen – mit sicherem Schnitt durchtrennt er seiner Gans die Kehle, mit sicherem Griff bricht er ihr das Genick. Jetzt strömt das Blut in den Eimer, und die Gans ist still. Tot ist sie noch nicht. Ihr Herz muss schlagen, um das Blut aus dem Körper zu pumpen. Ein Tier stirbt beim Schlachten immer durch den Blutverlust. Der Genickbruch oder auch ein Bolzenschuss, ein Stromstoss oder Gas – das ist nur die Betäubung, damit es nichts vom Sterben merkt.

Sekunden später öffnet die Gans den Schnabel und versucht, mit den Flügeln zu schlagen. Doch das, hatte Christoph gesagt, seien nur Nerven, die zuckten. Nach drei Minuten ist die Gans leer und tot. Rainer wird sie rupfen und in einen Kessel mit heissem Wachs tauchen – die Daunen lassen sich dann abreissen wie Härchen auf einem Frauenbein. Währenddessen stirbt bereits die nächste Gans. Thomas, der Student, und Bernhard, der Kellner, treten vor; zwei junge Wiener, die wissen wollen, wie ein Tier gelebt hat, bevor es zu Fleisch wird. Die Stimmung auf dem Hof ist still und konzentriert, als würde das Schlachten andächtig machen. Bernhard zögert nicht.

Es ist nicht leicht, das Töten zu lernen. In der Schweiz hat das Kurszentrum Ballenberg 2013 merken müssen, dass man vom Sterben nichts wissen will. Als bekannt wurde, dass dort ein Kurs in «Kleintierschlachtung» angeboten werde, war die Empörung gross. Die Kursleiterin, die Züchtern und Bäuerinnen beibringen wollte, Hühner und Kaninchen so schonend wie möglich zu schlachten, bekam Hassbriefe aus halb Europa. Gegen 10 000 Menschen unterschrieben Onlinepetitionen, darunter solche, die sich als Vegetarier zu erkennen gaben. Viel zahlreicher aber waren die Hunde- und Katzenfreunde, die ihren Liebling wohl kaum mit Grünkohl und Quinoa ernähren. Es ist, als fände das Töten nicht statt, solange man nur nicht daran denkt. Eine Kollegin, der ich von dem Schlachtkurs erzählte – und meiner Angst davor –, sagte, sie hätte Panik, nach etwas so Perversem kein Fleisch mehr herunterzukriegen. Der Bekannte, der für billige Schnitzel nach Deutschland fährt, findet es «extrem unmoralisch», ein Tier eigenhändig zu töten. Vielleicht wäre es an der Zeit, im Detailhandel ein neues Label einzuführen: «Garantiert schlachtfrei» – für Fleisch von Nutztieren, die sich uns zuliebe selber umgebracht haben.

Der Aufstieg des Fleisches und die Verdrängung des Tötens begannen zur gleichen Zeit. Im Zug der Industrialisierung verschwanden die Tiere aus der Stadt. Metzgerlokale wurden im 19. Jahrhundert aus den überfüllten Zentren verbannt; man verdächtigte sie, an Cholera- und Typhusepidemien schuld zu sein. Stattdessen wurden nun grosse Schlachthöfe an der Peripherie gebaut; die Metzger mussten sich einmieten, schlachteten aber selbst. In den USA erfand man 1865 das industrielle Töten, die Stockyards, in denen die Tiere am Fliessband geschlachtet und zerlegt wurden. Sie machten aus dem Provinzstädtchen Chicago eine Metropole, führten zum Siegeszug der Kühlsysteme und inspirierten Henry Ford zur Fliessbandfabrikation.

Gleichzeitig brauchte man im 19. Jahrhundert immer mehr Tiere, um die Arbeiter zu ernähren. Zwar galt Fleisch seit je als hochwertige Speise, die meisten aber bekamen es selten auf den Tisch. Das änderte sich, als der Fleischkonsum der unteren Schichten den oberen einen Vorteil versprach: im Krieg und in der Fabrik. Der Chemiker Justus von Liebig teilte in den 1840er Jahren Nährstoffe in Kohlenhydrate, Fette und Eiweiss auf; im tierischen Eiweiss vermutete er die Quelle der Muskelkraft. Er erfand den Fleischextraktwürfel, in dem das Rind unverderblich, handlich und kostengünstig gespeichert war. Fleisch bekam den Status eines «Supernahrungsmittels», das Fabrikarbeiter in Superarbeiter verwandeln sollte.

Nach und nach entfernte sich das Fleisch vom Tier. Das lässt sich an der Werbung ablesen, den berühmten Plakaten des Fleischverarbeiters Bell etwa: Man zeigte Schinken, Wurstkörbe, Hausfrauen, die mit Corned-Beef-Büchsen jonglierten – aber nur einmal einen Ochsen. Und nachdem die Migros in den 1950er Jahren den ersten Selbstbedienungsladen mit Fleischabteilung eröffnet hatte, liessen sich die Hausfrauen nicht mehr beim Metzger Stücke von einem grossen Ganzen ab- säbeln, sondern griffen zu hübsch abgepackten Portionen. Der Tod war nun hinter Schlachthofmauern verschwunden und unter Cellophan.

Vor mir ist noch Veronika dran. Der Kurs ist ein Geschenk ihres Mannes, vor einiger Zeit hat die Journalistin hier schon ein Schwein geschlachtet. Sie ist die einzige Frau, die nach dem Messer greift. Backenknochen erfühlen. Kehlhaut nach unten ziehen. Messer ansetzen, dann sticht Veronika zu – und zögert. Die Gans flattert und stösst einen Klagelaut aus; es dauert keine Sekunde, bis Christoph Wiesner eingreift und ihr das Genick bricht. Veronika zittert. Die Wimpern, sagt sie, mit dem Zwinkern in der Handfläche habe sie nicht gerechnet.

Plötzlich bin ich sicher, dass ich mir nicht sicher genug bin. Obwohl ich wohl weiter Fleisch esse, obwohl es für diese Geschichte besser wäre: ich will nicht versuchen zu töten. Denn den Preis für die Tapferkeit zahle nicht ich, sondern das Tier. Walter, der Polizist, übernimmt, ich halte nur Füsse und Flügel der Gans. In den Fingern kann ich das Pochen ihres Herzens spüren und die Kraft, die in den Muskeln steckt. Ein sicherer Stich, ein sicherer Griff, Walter zögert nicht. Ein paar Sekunden später versucht das blutende Tier so kräftig mit den Flügeln zu schlagen, als gäbe es noch Hoffnung auf Flucht. Schlachten passiert nicht nur im Kopf, es ist eine brachiale Tat. Ich halte die Gans, so gut ich kann, während das Leben aus ihr weicht; die drei Minuten, bis sie still ist, sind furchtbar lang.

Ich denke daran, dass die Gans ihre Tage am Bach verbracht hat, dass sie ein Leben hatte, wie man es jedem Nutztier wünscht. Ich denke an die Worte von Rainer, dem Gepäckarbeiter, der als erster an der Reihe war. Niemals würde er das kleinste Stück eines Tieres wegwerfen, das er selber geschlachtet, gerupft und ausgenommen hat, sagte er. «Es ist, als gäbe einem das Töten die Ehrfurcht vor dem Tod zurück.»

Trotzdem würde ich gern ein bisschen weinen.

Ein grosser Teil der Menschen, die diese Schlachtkurse besuchen, sind aus dem gleichen Grund dabei wie ich. «Sie glauben, sie müssten töten können, um Fleisch zu essen», sagt Christoph Wiesner, als er mich zum Schweineschlachten auf die Weide mitnimmt. Aber wenn jemand den Kurs nur als Rechtfertigung nehme, um weiter billiges Fleisch im Supermarkt zu kaufen, «dann hat er nicht das Geringste verstanden».

Um zu verstehen, muss man die Wiesners mit anderen Schweinezüchtern vergleichen. Ihre Wollschweine sind das ganze Jahr draussen, Schweine aus konventioneller Mast sehen beim Transport zum Schlachthof erstmals Tageslicht. Hier leben rund hundert Tiere auf drei Hektaren Weide, anderswo steht einem Schwein die Fläche eines Bügelbretts zu. Hier sind die Schweine zwei Jahre alt, wenn sie geschlachtet werden, erwachsen also, anderswo mästet man sie innert sechs Monaten zu überdimensionierten Teenagern hoch.

Gerade hat Isabell Wiesner altes Brot auf die verschneite Weide geworfen, jetzt geht Christoph schweigend mit einem Gatter durch die zufrieden grunzende Herde. Noch hat er nicht entschieden, für welches Tier dieser Tag der letzte sein wird. Schliesslich stülpt er das Gatter über ein schwarzblondes. Dann greift er das Tier sanft am Kopf, und setzt das Bolzenschussgerät an. Das Schwein sackt zusammen. Bei den Schlachtkursen für Schweine würde ein Teilnehmer den Halsstich setzen, aber Christoph hat anhand der Gans gesehen, dass ich dazu nicht tauge. Er setzt den Stich, das Tier blutet aus, und ich denke, dass man diese Art des Schlachtens nicht verdrängen müsse: Ein stiller, schneller Tod beendet hier ein schönes Schweineleben.

In der einen Stunde, in der die Wiesners ihr Wollschwein auf der Wiese geschlachtet haben, sind im dänischen Ort Horsens 1480 Hybrid-Schweine gestorben. Hier, mitten in Dänemark, steht einer der grössten Schlachthöfe Europas und einer, wie ihn Paul McCartney einst gefordert hat: «If slaughterhouses had glass walls, everyone would be vegetarian», sagte der Ex-Beatle und Veganer in einer Dokumentation: Wenn Schlachthöfe gläserne Mauern hätten, wäre jeder ein Vegetarier. «Wir haben Sir Paul zu uns nach Horsens eingeladen», sagt Agnete Poulsen. Leider habe er sich nicht gemeldet. Auch die Tierschützer, die regelmässig in der Zentrale von Danish Crown anrufen, lehnen ihre Einladung stets ab. Und die junge Frau, die sich vor dem Eingangstor mit einem Eimer roter Farbe – oder war es echtes Blut? – übergossen hat: «Haben wir hereingebeten, damit sie sich ein Bild machen kann. Und es war ja auch so kalt draussen. Aber sie wollte auf keinen Fall.»

Agnete Poulsen leitet den Besucherdienst des Schlachthofs. Jedes Jahr kommen 20 000 Menschen, um sich das Töten anzuschauen; und eine davon bin ich. Staunend blicke ich mit einer Gruppe angehender Lebensmitteltechnologen durch eine Glaswand. Unten sind 3000 Schweine in Hunderte Abteile einsortiert. Sie sollen nach dem Transport zur Ruhe kommen – auch hier weiss man, dass ein paar ruhige Stunden vor der Schlachtung gut sind für die Fleischqualität. Poulsen sagt, was sie an dieser Station immer sagt: «Und, was hört ihr?» Es ist eine rhetorische Frage, denn man hört nichts, vor allem nichts von dem, was man befürchtet hatte. Kein ängstliches Grunzen, kein Quietschen in Todesangst, kein panisches Trampeln bei vergeblichen Fluchtversuchen.

Der Schlachthof ist so gebaut, dass die Tiere mitwirken, sobald sie aus den Lastwagen ausgeladen sind: Weil Schweine nicht gern allein sind, lässt man sie in der Gruppe; weil sie lieber auf- als abwärts gehen, steigen die Gänge um sanfte zwei Prozent; weil sie Dunkelheit nicht mögen, leuchtet an den Enden Licht. In diesem Bereich arbeiten kaum Menschen, automatische Klappen und Schleusen schicken die Tiere weiter voran. Sie gehen arglos und neugierig in den Tod.

Fast alles kann man auf dem 300 Meter langen Korridor mit Glasfenstern sehen, nur die «Betäubung» nicht. Zu acht besteigen die Schweine einen nicht durchsichtigen Lift, zu acht kippen sie drei Minuten später auf ein Förderband. Dazwischen liegt ein sogenanntes Paternoster-System, das die Tiere über drei Stufen in eine Grube mit Kohlendioxidgemisch senkt: «Dort schlafen sie dann langsam ein», sagt Poulsen.

Die Schweine sehen aus, als ob sie träumen würden. Ein Arbeiter hängt Tier um Tier am Hinterlauf an der Rohrbahn auf, ein zweiter sticht ein Hohlstechmesser mit Schlauch in die Halsschlagader, 1480 Mal pro Stunde. Nach drei Minuten ist das Tier tot, innert dreier Stunden zerlegt. «Nose to tail» ist in der Fleischindustrie längst Standard, nur eben globalisiert: Kopf und Füsse gehen nach China, Spareribs in die USA, das Schulterblatt nach Korea, das Filet nach Japan oder Deutschland, der Speck nach England, die Hinterschinken nach Spanien und Italien. 10 Kronen bekommt ein Schweinebauer pro Kilo Schlachtgewicht; ein Tier bringt ihm also rund 130 Franken ein.

Ein gläserner Schlachthof muss zwingend ein Vorzeigebetrieb sein. Die Skandale, die aus anderen nach draussen dringen, von brutalen Arbeitern, Tieren, die bei Bewusstsein sind, wenn sie aufgehängt werden, und Schweinen, die man lebendig verbrüht – wenn jeden Tag Hunderte von Menschen hinter Glas zuschauen, kann sich niemand solche Fehler leisten.

Es waren die Besitzer von Danish Crown, damals 18 000 Schweinebauern, die den Schlachthof gläsern wünschten. Wenn sie 300 Millionen Euro verbauten, wollten sie das Ergebnis zeigen. Seither waren Studenten da und Farmer, Restaurateure und Rotary Clubs, Spitalangestellte und Schulklassen, die einen Viertel der Besucher ausmachen. Natürlich sind auch Chefs von anderen Schlachthöfen gekommen, die die Vorstellung von Transparenz gefährlich finden. «Was, wenn die Leute dadurch Vegetarier werden?» habe einer einmal gefragt, sagt Poulsen, die ihren Job mit Leidenschaft ausübt. «Menschen werden nicht Vegetarier, weil sie sehen, wie Tiere geschlachtet werden», hat sie geantwortet. «Sondern weil sie es sich vorstellen.»

Vielleicht hat Agnete Poulsen recht: Ein Besuch im Schlachthof ist nicht in der Art schrecklich, wie man es sich vorstellt. Es ist schrecklich wie ein Horrorfilm, bei dem man das Grauen nie sieht. Das Grauen liegt im Ausmass der industriellen Tierproduktion, in 1480 Schweinen pro Stunde, 109 000 pro Woche, 5,7 Millionen im Jahr, allein in Horsens. Es liegt in den arglosen Gesichtern von Tieren, die für uns ein Produkt sind von dem Moment an, in dem sie geboren werden. An diesem Schlachthof ist nichts falsch – oder alles.

Eine Woche nach dem Besuch in Horsens habe ich mir im Internet einen Film angesehen, den die Tierrechtsorganisation Peta auf ihre Website gestellt hat: Es sind Aufnahmen aus einem Paternoster-Betäubungslift in einem anderen Schlachthof, dem einzigen Bereich, der auch in Horsens nicht transparent ist. Darauf sind keine Schweine zu sehen, die langsam einschlafen. Sondern solche, die im Kohlendioxid zu ersticken glauben; sie quieken und zappeln und versuchen panisch zu entkommen. Vielleicht zeigt der Film eine Ausnahmesituation. Doch selbst der Chef von Micarna, dem Fleischverarbeiter der Migros, sprach 2011 in einem Referat von einem «kritischen Fenster» von 10 bis 15 Sekunden bei dieser Form der Betäubung: Entsprechende Bilder, sagte er, seien der Öffentlichkeit «nur schwer bis unmöglich zu kommunizieren».

Als ich diese Bilder sah, habe ich nicht beschlossen, kein Fleisch mehr zu essen. Ich ass einfach an diesem Tag keins und dann auch nicht am nächsten.

Barbara Klingbacher ist NZZ-Folio-Redaktorin.